… erklang aus dem CD-Player. Ich las gerade Jane Eyre zu Ende. Ich weiß nicht, was es war, diese große alle Hindernisse beseitigende Liebe, das Lied und die Erinnerung an damals. Oder vielleicht einfach meine, durch die drückende Hitze, angespannten Nerven (um gute Ausreden bin ich nie verlegen). Als das nächste Lied anfing, es waren nur die ersten Noten, ich wusste sofort, welches Lied kam, stiegen mir Tränen in die Augen und nichts konnte sie aufhalten. Es heißt: Wenn der Himmel und wird von Bintia gesungen:
Wenn der Himmel sich zu mir runterbeugt
mir ein Lächeln schenkt
hat es sich gelohnt
alle Sorgen kann ich überstehen
denn jeder Tag könnte mein letzter sein
Wenn der Himmel sich für mich öffnen tut
meine Wange küsst
dann kann auch ich hinter den Horizont sehen
Aller Anfang ist schwer
so viele Schmerzen
ich bleib zurück
mit dieser Leere in meinem Herzen
du fehlst mir so
doch ich schau nach vorn
ich lieb dich so, Baby
deshalb lass ich los
Mein Kopf ist zu
voller Gedanken
warum bist du nur
von mir gegangen
ich kann nicht essen,nicht schlafen,
nicht lachen ohne dich
doch ich weiß auch
es ändert sich, alles ändert sich
Keine Angst vor Gefühlen
was auch kommt
nach dem Regen lacht die Sonne
und die Blumen gehen auf
Wenn der Himmel sich für mich öffnet und
meine Wange küsst
dann kann auch ich hinter den Horizont sehen
Ich weinte, als hätten sich alle Schleusen geöffnet und konnte nicht aufhören. Ich mochte dieses Lied schon 2005. Es drückte genau das aus, was ich damals fühlte und heute spülte es alles wieder hoch. Damals: unsere Lieder, die durchwachten durchliebten Nächte, die langen Gespräche, Liebesschwüre, das Hochgefühl des Begehrtseins. Die Sehnsucht, die mein Herz schneller schlagen ließ, wenn ich auf ihn wartete und die mit jeder Sekunde wuchs, wenn er ging. Die zärtlichen Gesten, die süßen Küsse, die Erregung und die Tausende Schmetterlinge, das Gefühl jemandem alles zu bedeuten.
Wo ist es hin? Im Alltag zerronnen, dahin geschwunden im Stress der Arbeit, der verzehrenden Selbstverständlichkeit oder einfach untergetaucht im Nebel sich wiederholender Tage aus ständiger Nähe und Eintönigkeit.
„Ich bin nun seit zehn Jahren verheiratet. Ich weiß, wie es ist, ganz für und mit dem Menschen zu leben, den ich auf Erden am meisten liebe. Ich schätze mich zutiefst glücklich – glücklicher, als Worte es auszudrücken vermögen, denn ich bedeute meinem Gatten alles im Leben und er mir. … Und Zusammensein bedeutet für uns, dass wir uns in Gegenwart des anderen so frei fühlen, als wären wir allein, und dabei so fröhlich und unbeschwert sind, wie in Gesellschaft. Ich glaube, wir sprechen den ganzen Tag miteinander, denn miteinander sprechen ist ja nichts anderes als angeregtes, lautes Denken. Mein ganzes Vertrauen gehört ihm und auch er hat mir sein ganzes Vertrauen geschenkt.“
Jane Eyre, Charlotte Bronte
Aus Realitätsgründen sehe ich davon ab, die Zeilen zu zitieren, in denen Charlotte schreibt, „sie waren stets zusammen und harmonierten in jeder Hinsicht, vollkommene Eintracht und Übereinstimmung seien die Folge.“ Nobody is perfect, das ist selbst mir klar. Auch wenn manche Menschen mir einen Hang dazu bescheinigen, dass ich meinen Kopf in den Wolken trage. Jane Eyre ist Literatur und oft ist Literatur das Ideal, das wir in uns tragen. Erwarte ich zu viel? Soll ich nichts erwarten? Ist es zu viel zu erhoffen, dass man das Interesse für den anderen behält, seiner Gesellschaft nicht überdrüssig wird, ebenso wenig wie dem Pochen des anderen Herzens?
Einverständnis und Frieden sind toll. Aber wo ist damals? Unser Lied? Bintia singt: Alles ändert sich. Ich weiß das. Sehr gut sogar. Ich bemerke es jeden Tag. Ich muss nur in den Spiegel schauen oder meine Kinder ansehen. Alles ändert sich. Die Zeit läuft und egal ob es mir nun passt oder nicht, damals ist vorbei. Ich will nicht im Damals feststecken. Doch ich bedauere, dass wir so oft in unserer Alltäglichkeit gefangen sind, dabei kostet es so wenig uns ein bisschen Damals zurückzuholen. Nur ein Lied. Eine laue Nacht im Wald, wenn die Glühwürmchen ausschwärmen und alles märchenhaft verzaubert vor uns liegt. Der Geschmack von Schokoladeneis, der uns den Sommer ins Gedächtnis ruft, in dem wir uns so sehr liebten, dass wir es ohne das Pochen des anderen Herzens keine Sekunde auszuhalten glaubten.
Könnte ich doch die Jahre zurückhalten, meine Tränen verbergen in meinem sehnsuchtsgeplagten Herzen, gestern gestern sein lassen. Leider habe ich das Gefühl, dass ich dem Horizont zu nahe bin, um mich nur mit vergangenen Träumen zufrieden zu geben.