Der Innenraum der Kirche war hell erleuchtet von der Morgensonne, die durch das runde nach Osten gerichtete Fenster über dem Taufbecken fiel. Die Frühmesse war vorüber und die wenigen Gemeindemitglieder, die schon um sechs den Gottesdienst besuchten, auf dem Heimweg. Bruder Martin ordnete die Gegenstände auf dem Altar für die nächste Messe, sammelte die vergessenen Gesangbücher ein und legte sie auf den kleinen Tisch neben den Eingang. Da entdeckte er eine junge Frau, die hinter einer Säule saß, als wollte sie nicht bemerkt werden. Bruder Martin kannte sie nicht und überlegte ob er sie ansprechen sollte. Ihre Haltung drückte Hoffnungslosigkeit aus. Ihre Schultern hingen schlaff herunter und sie zitterte am ganzen Körper, als hätte sie Schüttelfrost. Dann hörte er ein leises Schluchzen und sah, dass sich ihre Lippen tonlos bewegten, als wäre sie im Gebet versunken. Sie war noch sehr jung, höchstens 20.
„Guten Morgen, kann ich ihnen helfen?“, fragte Bruder Martin besorgt.
Die Frau sah ihn erschrocken an. Scheinbar hatte sie ihn überhaupt nicht wahrgenommen. Wie lange sie wohl schon dort saß? Ihre Hände waren krampfhaft ineinander verschränkt.
„Mir kann niemand helfen“, antwortete sie tonlos und Tränen liefen über ihre geröteten Wangen.
„Sagen sie das nicht, mit Gottes Hilfe kann viel bewirkt werden“, meinte Bruder Martin zuversichtlich.
Die junge Frau sah ihn mutlos an und er schrak, als er die Leere in ihren Augen sah. Hilflos stand er da und überlegte was er tun könnte, um ihr zu helfen. Das Schweigen zwischen ihnen war greifbar und wurde durch die Stille in der Kirche noch verstärkt.
„Wollen sie beichten? Vielleicht kann sie, das von ihrer Last befreien“, brach Bruder Martin das Schweigen.
Gleichgültig zuckte die Frau mit den Schultern.
„Es kann nichts schaden, aber es wird mir nichts nützen.“
Mit gesenktem Kopf stand sie auf und folgte Bruder Martin zum Beichtstuhl. Er trat hinter schweren Samtvorhang, in die verschwiegene Dunkelheit des Beichtstuhls und wappnete sich innerlich gegen das, was er gleich hören würde. Ein leises Geräusch verriet ihm, das die junge Frau auf der anderen Seite auf dem Stuhl platz genommen hatte. Das trennende Gitter zwischen sich und dem Beichtenden hatte Bruder Martin oft als störend empfunden. Er hatte immer das Gefühl, als hielte es ihn von den Menschen fern. Aber er spürte, dass es diesmal anders war. Es war wie eine Schutzmauer, die ihn von drohendem Unheil abschirmte. Sein Herz schlug bis zum Hals und einen Moment lang wünschte er sich, die junge Frau nie angesprochen zu haben.
„Nun, meine Tochter, was möchtest du beichten.“
Bruder Martin flüchtete sich in die kirchlichen Formeln, um seine Sicherheit wieder zu gewinnen. Er hörte, dass sie tief atmete, als würde sie zum Sprung ansetzen.
„Ich habe meine Seele dem Teufel verschrieben“, sagte sie plötzlich und fing an zu weinen.
Bruder Martin war einigermaßen erstaunt über diese Äußerung und lächelte erleichtert. Nur eines von diesen verwirrten Mädchen. Es war also doch nicht so schlimm, wie er befürchtet hatte. Sie schien aber ziemlich naiv zu sein. Denn obwohl Bruder Martin, als Mann der Kirche sehr gläubig war, konnte er sich nicht vorstellen, dass man seine Seele dem Teufel verschreiben konnte. Das war doch nur ein großer Unsinn, den ein paar arme verirrte Seelen verbreiteten, die sich mit der alten Kirche nicht anfreunden konnten. An irgendetwas mussten sie ja glauben, und wenn es der Teufel war.
„Wie kommst du auf den Gedanken?“, hakte er nach.
„Ich finde keine Ruhe mehr, weder am Tag noch in der Nacht. Ich kann nicht mehr klar denken. Alles dreht sich im Kreis. Ich werde noch verrückt“, sprudelte es aus ihr hervor.
„Das wird sich schon wieder geben“, versuchte Bruder Martin sie zu beruhigen. Durch das Gitter sah er, wie sie langsam den Kopf schüttelte. „Was nimmt denn deine Gedanken so sehr gefangen, dass du keine Ruhe mehr findest.“
Es dauerte einig Weile bis sie antwortete.
„Ich glaube nicht, dass ihr das verstehen könnt.“
„Ihr könntet es ja versuchen.“
Bruder Martin wollte sich nicht so leicht geschlagen geben. Diesen Spruch hatte er schon oft gehört. Wieder schüttelte sie den Kopf.
„Ich danke euch, dass ihr mir helfen wollt, aber mir kann niemand helfen.“
Abrupt stand sie auf, straffte die Schultern, trat aus dem Beichtstuhl und ging auf den Ausgang zu. Bruder Martin war so überrascht, dass er ihr gerade noch nachrufen konnte:
„Wenn sie es mir doch sagen wollen, finden sie mich hier.“
In der nächsten Zeit sah Bruder Martin die junge Frau öfter. Aber jedes Mal wenn er auf sie zugehen wollte, um sie zu begrüßen oder ihr etwas Aufmunterndes zu sagen, verschwand sie eilig und ohne ihn anzusehen. Ihre hoffnungslose Haltung änderte sich nicht, im Gegenteil, Bruder Martin hatte das Gefühl, als würde sie mit jedem Mal mehr in sich zusammen fallen. Ihr Haar, das sie bei ihrer ersten Begegnung noch hübsch frisiert hatte, hing nur noch in Strähnen herunter und auch ihre Kleidung ließ zu wünschen übrig. Wenn er sie sah, konnte er sich eines merkwürdigen unangenehmen Schauers nicht erwehren. Dann, plötzlich hörten ihre Kirchenbesuche auf und Bruder Martin fragte sich, was mit ihr passiert sein mochte.
Es war nach einer Frühmesse, als Bruder Martin auf dem Altar neben dem Blumengesteck einen Brief entdeckte. Er war zerknittert und mit krakeligen Buchstaben beschrieben, fast wie von einem Kind, aber deutlich an ihn adressiert. Bruder Martin nahm den Umschlag und steckte ihn in die Tasche seiner Kutte. Hastig und nicht mit der gewohnten Sorgfalt, erledigte er seine Aufgaben. Seine Gedanken galten dem merkwürdigen Brief in seiner Tasche. Dann eilte er in sein Studierzimmer, rückte seinen Lehnstuhl ans Fenster und öffnete den Brief.
„Lieber Bruder,
wenn sie diesen Brief lesen werde ich von meinen Leiden erlöst sein. Ich sehe keinen anderen Ausweg. Das Einzige, um das ich in diesem Leben noch bitte ist, dass sie ein Gebet für mich sprechen. Als ich ihnen sagte, ich hätte mein Leben dem Teufel verschrieben, traf das nicht ganz zu. Oder zumindest wusste ich es zu dem Zeitpunkt, als ich es tat, noch nicht. In meinem Leben gab es nie ernsthafte Probleme. Ich wuchs in finanziell gesicherten Verhältnissen auf, hatte gute Schulnoten und bekam eine tolle Lehrstelle. Auch wenn ich einen Jungen gut fand gab es nie Probleme, es gab immer Mittel und Wege ihn auf mich aufmerksam zu machen. Alles war gut und ich hätte zufrieden sein können. Aber wie es in diesem Leben wohl so oft vorkommt, können sich die Menschen mit diesen Dingen nicht abfinden, sie wollen immer mehr. So auch ich. Eine meiner Arbeitskolleginnen, ein sehr unscheinbares und stilles Mädchen, brachte eines Tages ihren Freund mit zur Arbeit. Ich verliebte mich auf den ersten Blick unsterblich in ihn. Seit dem Moment ließ ich nichts unversucht diesen Mann auf mich aufmerksam zu machen. Aber nichts klappte. Ich fand heraus wo ich ihn treffen konnte, schrieb Briefe, rief ihn an, aber es war hoffnungslos. Eines Tages lass ich in einer Zeitschrift etwas über Frauen, die durch Zauberei den Mann ihrer Träume erobert hatten. Ich war so verzweifelt, dass mir sogar ein Mittel, das mir unter normalen Umständen lächerlich vorgekommen wäre, in Erwägung zog. In der nächsten Vollmondnacht, schlich ich mich auf den nächsten Friedhof, stellte mich an ein frisches Grab, zündete eine Kerze an und versprach alles was mir heilig war Gott oder dem Teufel, wenn sich nur dieser Mann in mich verlieben würde. In meiner Naivität verpfändete ich sogar mein Leben. Nur um endlich Ruhe finden zu können. Das Unglaubliche geschah! Er verließ seine Freundin und wollte mich. Ich war stolz auf meinen Einfallsreichtum und sah geringschätzig auf meine Arbeitskollegin herab. Nicht nur das. Wo ich konnte, ließ ich sie merken wie groß ich mich fühlte und verspottete sie. Aber mein Triumph verwandelte sich in einen Fluch. Statt glücklich zuwerden, weil ich endlich den Mann meiner Träume erobert hatte, verwandelte sich mein Leben in eine Katastrophe. Dieser Mann, den ich so sehr begehrte, gehörte nicht nur mir, er hatte auch noch andere Freundinnen. Aber statt ihn zu verlassen, vergaß ich bei ihm alles, auch meine Würde. Wenn er bei mir war, lebte ich auf und wenn er nicht da war, was immer häufiger vorkam, litt ich wie eine Fieberkranke. Ich bettelte auf Knien, versprach ihm was er wollte, tat was er wollte, aber er demütigte mich bis in den Staub. Jedes Mal schwor ich, ich würde ihn verlassen, aber ich konnte es nicht. Wie eine Süchtige verfiel ich ihm, ohne Aussicht auf eine Heilung. Er begann mich zu halten wie einen Hund, streichelte mich und trat mich. Ich fügte mich. Und sie werden mir recht geben, Gott hatte mir diesen Mann nicht geschenkt, es muss der Teufel gewesen sein. Mein Leben ist nur noch eine einzige Qual, ich kann ohne diesen Mann nicht Leben, aber auch nicht mit ihm. So ist es besser gar nicht mehr zu leben. Ich danke ihnen für ihre Sorge und ihr Mitgefühl. Beten sie für mich.
Ihre verzweifelte Lena“
Bruder Martin ließ den Brief auf seine Knie sinken und blickte mit tränenfeuchten Augen hinaus in seinen blühenden Garten. Alles war friedlich und still. Die Sonne schien auf den kleinen Gartenteich, der sein ganzer Stolz war. Die Seerosen wandten ihre zartrosa geränderten Blüten dem Himmel entgegen. Eine Libelle schwirrte über sie hinweg und ihre Flügel schillerten in allen Farben des Regenbogens. Durch das offene Fenster nahm er den sanften Duft der Rosen wahr, die sich gerade entfalteten. Das arme, verwirrte Mädchen. Hätte sie sich ihm doch anvertraut, vielleicht wäre es ihm möglich gewesen ihr zu helfen und sie von diesem absurden Gedanken abzubringen. Wie sehr musste sie gelitten haben, dass sie glauben konnte, sie habe ihre Seele dem Teufel verschrieben. Bruder Martin schüttelte nachdenklich den Kopf. Aber den Wunsch ein Gebet für sie zu sprechen wollte er ihr erfüllen. So schloss er die Augen, um ein „Ave Maria“ für sie zu beten. Leise sprach er die ersten Worte, als er plötzlich aufschrie vor Schmerzen und den Brief von sich warf. Das Papier war in Flammen aufgegangen und verbrannte vor seinen Augen zu einem winzigen Aschehäufchen. Starr vor Schreck sah Bruder Martin auf die Asche zu seinen Füssen. Und jedes Mal, wenn er später sein Arbeitszimmer betrat und auf den Brandfleck sah, der sich in die Holzdielen eingefressen hatte, bekreuzigte er sich und sandte ein Stoßgebet gen Himmel.
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